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Es lebt sich gut hier

Das friedliche Miteinander der Kulturen hat in Tatarstan Tradition. Auch Lutheraner leben dort

Zum Leben in der Stadt Kasan gehören die Lutheraner dazu. In der Hauptstadt der Tataren-Republik am Zusammenfluss von Kasanka und Wolga gibt es viele Kontakte nach Deutschland.

Victor Dietz im Interview mit Radio Multikulti beim tatarischen Sabantuy-Fest im Juli in Berlin-Lichtenberg. Foto: FocusOst

Victor Dietz ist stolz auf seine Kirche, auf seine Gemeinde und auf das bisher Erreichte in seiner Stadt. Seit dem Jahr 1750 gehören die Deutschen zum städtischen Leben in Kasan, der Tataren-Hauptstadt am Zusammenfluss von Kasanka und Wolga. «Es lebt sich gut hier, denn ein friedliches Miteinander hat Tradition», erzählt Dietz.

Kasan beherbergt schon seit vielen Jahrhunderten verschiedene Ethnien und Konfessionen. Die Mehrheitsbevölkerung sind muslimische Tataren, aber auch Juden, Russen, Tschuwaschen, Baschkiren, Udmurten leben hier. Und eben auch Deutsche. Sie sind schon lange in der 1000 Jahre alten Stadt verwurzelt. So wundert es nicht, dass der deutsche Physiker Victor Dietz mit einer Tatarin verheiratet ist.

Ein kleiner, aber äußerst aktiver Teil von Angehörigen der Lutherischen Kirche lebt seit Jahrhunderten im Wolga-Uralgebiet. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS) ist eine Gemeinschaft lutherischer regionaler Kirchen und Gemeinden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Als erste rief Katharina II. die Deutschen mit ihrem Edikt von 1763, Tausende zogen daraufhin gen Osten.

Die Gemeinde der Russlanddeutschen in Kasan umfasst heute 500 Mitglieder, in ganz Tatarstan 3000 Menschen. Die vergangenen Jahre hat Dietz seine Energie darauf verwandt, wieder ein aktives Gemeindeleben zu schaffen. Aber auch das an die evangelisch-lutherische Kirche angrenzende Deutsche Haus ist für alle offen. Kirche und Gemeindedomizil dienen beide als Treffpunkt, Veranstaltungs- und Proberaum.

Eine Besonderheit sei, so Dietz, die immer größer werdende Gemeinde in Kasan. Durch die Aktivitäten der Lutherischen Gemeinde unter seiner Leitung werden Katharinenkirche und Deutsches Haus immer attraktiver auch für andere Christen der Stadt. Der Probsteirat Tatarstans ist zuständig für den gesamten Bereich «Europäisches Russland» und sieht sich in der Tradition der evangelisch-lutherischen Siedler der Zarenzeit als auch der Deutschen Wolgarepublik.

Diese Tradition fortzusetzen hat sich auch der Deutsche Christian Herrmann auf die Fahnen geschrieben. Der 73-Jährige steckt voller Enthusiasmus. Für etwa fünf Monate im Jahr ist Herrmann in Kasan. Den Rest des Jahres arbeitet er von seiner Heimat Ludwigshafen aus für das lutherische Erbe der Gemeinde. Er gründete die Probstei-Tatarstan-Stiftung und sammelt Spenden.

«Perspektiven für Russland mit zu entwickeln ist mein Ziel», erklärt Herrmann seinen Einsatz in Tatarstan. Bereits seit acht Jahren arbeitet er ehrenamtlich als Pfarrer in der Gemeinde und hilft, das Deutsche Erbe Kasans zu verwalten und an alte Blütezeiten anzuknüpfen. Schon vier Gemeinden sind im Kirchenkreis Tatarstan mit seiner Hilfe entstanden. Ziel des pensionierten Propstes ist es, eine Selbstverwaltung der Gemeinden zu erreichen. Denn Herrmann wird nicht ewig zwischen Deutschland und Tatarstan pendeln können.

Christian Herrmann gründete auch eine Diakoniestation und eine Apotheke in Kasan. Vier Ärzte und eine Diakonisse arbeiten dort. Für die Kleinsten wurde der Fröbelkindergarten eröffnet. Der 235 Jahre alten lutherischen Katharinenkirche verhalf er zu einem neuen Dach. Doch damit sind die Arbeiten an dem alten Gemäuer noch lange nicht beendet. Denn in dem Gotteshaus haben die Sowjetzeiten deutliche Spuren hinterlassen. Vor dem Zerfall der Sozialismus diente die Kirche dem sowjetischen Geheimdienst KGB als Turnhalle. Doch die Gemeindeglieder arbeiten daran, die Hinterlassenschaften zu beseitigen. Tücher und Bilder verdecken die maroden Mauern und ständige Arbeitseinsätze sollen das Haus wieder in altem Glanz erstrahlen lassen — irgendwann, denn das Geld ist knapp.

Bedürftige der Stadt können sich einmal pro Woche gegen eine Spende mit Kleidung versorgen. Herrmann organisiert die Sach- und Kleidersammlung von Deutschland aus. Die eingenommenen Spenden tragen dann zur Tilgung der laufenden Kosten bei: Strom-, Gas- und Wasserentgeld sind auch in Tatarstan immense Posten.

Die Sommermonate werden genutzt, um die deutschen Gräber auf dem städtischen Friedhof zu pflegen. Ein wichtiger Gedenktag während der Sommerpflege der Gräber ist der 28. August. An diesem Tag im Jahr 1941 wurde die Autonome Sowjetrepublik der Wolgadeutschen von der Stalindiktatur aufgelöst und die deutschen Bewohner nicht nur dieser Republik nach Zentralasien und Sibirien deportiert.

Victor Dietz und Christian Herrmann wollen an die lange Tradition der Russlanddeutschen in Kasan anknüpfen. Der Arzt und Ethnograph Karl Fuchs beispielsweise, zählt noch heute zu den bedeutendsten Söhnen der Stadt. Er kam 1805 aus dem Fürstentum Nassau-Dillenburg nach Kasan und übernahm den Lehrstuhl für Naturgeschichte und Botanik, später das Rektorenamt der Universität. In dieser Zeit legte er den Grundstock für den Botanischen Garten. Fuchs lernte sehr schnell Russisch und Tatarisch und durfte sogar als christlicher Arzt muslimische Frauen behandeln. Als einziger Christ bekam er bei den Tataren den Ehrentitel für muslimische Ärzte «Tabip». Besonders unter den Armen war der Deutsche beliebt, denn er behandelte sie kostenfrei und spendete Medikamente. Ein Buch über die deutschen Wissenschaftler Tatarstans — herausgegeben von Victor Dietz — erinnert an das reiche kulturelle Erbe dieser Zeit.

Doch nicht nur in Tatarstan sind Dietz und seine Gemeinde aktiv. Mittels intensiver Kontakte zu Kirchen in Deutschland versuchen sie, ihre Mitglieder zu halten. Dazu gehören auch besondere Attraktionen wie eine Reise nach Deutschland. Beispielsweise werden im August die deutsche Tanzgruppe «Perlenkette» und das «Deutsche Theater» Kasan — beide beheimatet bei der lutherischen Gemeinde Tatarstans — in Deutschland zu Gast sein . Sie waren die Gewinner bei einem Kulturausscheid der Wolga-Ural-Region. Diese Reise machte eine Kooperation der entwicklungspolitischen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) mit den deutschen Gemeinden in Russland möglich.

Auch Projekte der tatarischen Gemeinde mit der Evangelischen Akademie zu Berlin sind geplant. «Wir können viel voneinander lernen», sagt Dietz. Deutsche in Tatarstan und Tataren in Deutschland.

«Die Kirche», № 31, 3.08.2008, www.die-kirche.de

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