WM beim Muezzin

WM beim Muezzin

Kasan ist das islamische Zentrum Russlands und Spielort der WM 2018. Die Wehrmacht schaffte es, Gott sei Dank, nicht bis hierhin, die Scorpions schon.

Kommendes Jahr wird erstmals ein Spiel einer Fußballweltmeisterschaft in einer Stadt ausgetragen, in der der Muezzin den Ton angibt. Kasan, wo die deutsche Mannschaft an diesem Donnerstag auf Chile trifft, ist das islamische Zentrum Russlands. Hier steht die Kul-Scharif-Moschee, eine von vielen in Kasan und eine der größten Europas. Seit sie 2005 zum tausendjährigen Jubiläum eingeweiht wurde, ist sie ein Wahrzeichen der Stadt.

Ist Kul-Scharif tagsüber schöner, weil ihre hellblaue Farbe dann einladender wirkt, oder abends, wenn sie angestrahlt ist und die Silhouetten ihrer vier schlanken Minarette noch alibabahafter wirken? Jedenfalls zieht sie viele Menschen an, am Eingang helfen Frauen den Besucherinnen, das Kopftuch zu binden. Über eine Treppe steigt man auf eine Empore, um auf den Gebetsraum herabzuschauen. Natürlich ist die Moschee für alle offen, Touristen, aber auch Christen.

Das ist die zweite Besonderheit Kasans: Nur ein paar Schritte weiter steht man vor der Mariä-Verkündigungskathedrale, einer weißen Kirche mit weichen Formen. Sie ist der Mittelpunkt der Christen Kasans. Typisch für die Russisch-Orthodoxe Kirche sind der goldene Altar, die Fresken, die verzierten Ikonenbilder aus Holz, deren Gold und Silber im Kerzenlicht schimmert.

An diesem weihevollen Ort vergisst man rasch den Confederations Cup, sollte man überhaupt an ihn gedacht haben. Blickt man aus dem Fenster, sieht man jedoch über die Kasanka, die in Kasan über einen Stausee in die Wolga mündet, auf das Stadion. Ein deutlich profanerer Tempel.

Jahrhundertelanges friedliches Zusammenleben

Wer Glück hat, wohnt einem Gottesdienst bei. Der besteht in der russisch-orthodoxen Kirche vor allem aus mehrstimmigem Gesang. Musik und Gebet sind eins. Die Vokalmusik ist polyphon und arhythmisch, ihre Wurzeln liegen im Mittelalter. Diese engelsgleichen Töne können auch dem größten Atheisten die Seele aus dem Körper reißen.

Die Nachbarschaft der Moschee und der Kirche steht für das seit Jahrhunderten friedliche Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in Kasan. Der in Deutschland unbekannteste der vier Austragungsorte dieses Fußballturniers ist somit zu einer Art Best practice für Großteile der Welt geworden. Hier steht auch der Tempel aller Religionen, ein noch nicht ganz fertig gebautes Kulturzentrum. Sieht aus wie ein Gotteshaus, vielmehr wie drei. Es ist mit Halbmonden, Kreuzen und Davidsternen bestückt. Islam, Christen- und Judentum Seite an Seite.

Wobei allerdings innerislamische Konflikte in den vergangenen Jahren auch in Kasan angekommen sind. Speziell aus Tschetschenien und Dagestan sind radikale Islamisten eingewandert, die zuvor im Nordkaukasus im Untergrund gekämpft hatten. In manchen Moscheen Kasans sollen sie die Führung übernommen haben, um Jugendliche für den IS zu rekrutieren. Es kam zu Anschlägen auf hohe gemäßigte Geistliche. Ildus Fajsow, der Mufti der autonomen Republik Tatarstan, überlebte. Sein Stellvertreter wurde mit einem Maschinengewehr vor seinem Haus ermordet. Beide hatten sich gegen den radikalen Islamismus ausgesprochen. Wladimir Putins Nähe zu Syriens Machthaber Baschar al-Assad hat die Lage vermutlich eher verschärft.

Davon bleibt aber das multi-ethnische, kasanische Miteinander zwischen Juden, Russlanddeutschen, Ukrainern oder Tschuwaschen unberührt. Die Mehrheit der Einwohner bilden zu etwa gleich großen Teilen Russen und Tataren. Kasan ist die Hauptstadt Tatarstans, einer autonomen Republik rund 800 Kilometer östlich von Moskau. Über die Tataren hieß es früher, sie hätten rohe Fleischstücke unter ihrem Sattel mürbe geritten und dann gegessen.

Wer an diesem üblen, falschen Klischee festhält, war noch nicht in Tatar Village, einem kleinen Restaurant an einem der innerstädtischen Seen. Gegenüber türmt sich Kasans Skyline, drinnen probiert man am besten Kystybyi mit Kartoffeln, einen typisch tatarischen Teigfladen. Dazu eine im Holzofen gebackene Ente, sie ist zart, ein Messer braucht man nicht. Die Bildergalerie verrät: Die Scorpions haben hier auch schon gegessen.

Warum die WM hier hingehört, ist offensichtlich. Kasan, der Ostrand Europas, ist auch eine der bedeutendsten Sportstädte der Welt. Hier fand 2013 die Universiade statt, die Weltspiele der Studenten. In Europa sind sie uninteressant, in Russland hingegen eine große Nummer. Kasan war zuletzt auch Gastgeber von Schwimm-, Gewichtheben- und Fecht-WMs und trägt jedes Jahr ein bekanntes Tennisturnier aus.

Die vielen Sportveranstaltungen haben das Stadtbild verändert, zum Guten. Viele Sportflächen können auch von Hobbyspielern und Touristen benutzt werden. Das damalige Athletendorf der Universiade ist heute ein Campus. Das nennt man ein nachhaltiges Konzept.

Nirgends in Russland lebt es sich besser

Der ortsansässige Fußballverein heißt Rubin, er wurde 2008 und 2009 russischer Fußballmeister. Der Confed Cup scheint hingegen noch nicht viele zu begeistern. Während des Spiels Russlands gegen Portugal bleibt die Fußgängerzone belebt. Kneipen mit Fernsehern muss man lange suchen, im Salsa Club ist mehr los. Oder die Leute lauschen den Straßenmusikern. Einer spielt auf der Gitarre tatarisch-sprachigen Blues, ein anderer schafft Mozart, Verdi und Mendelssohn-Bartholdy auf dem Akkordeon, ohne dass es gequetscht klingt.

Kasan, diese moderne Großstadt, gilt als lebenswerteste Stadt Russlands, hat eine Umfrage ergeben. Das liegt an den sauberen Straßen und den (für an Berliner Verhältnisse gewöhnte Augen ungeheuerlich) akkurat gemähten Rasenflächen in den Parks, noch mehr an den vielen Kultur- und Bildungseinrichtungen. Und an der Architektur, einer brüderlichen Mischung aus Orient und Okzident. Schönstes Beispiel ist der Kasaner Kreml, der Sitz der Regierung Tatarstans. Das Weltkulturdenkmal wirkt anmutig, nicht einschüchternd.

Die Wehrmacht schaffte es, Gott sei Dank, nicht bis hierher. Im Gedenken an Russlands Kriegsopfer wird DFB-Präsident Reinhard Grindel an diesem Donnerstag einen Kranz im Park Pobedy, dem Siegespark, niederlegen. Er wurde vor zwei Jahrzehnten als Erinnerungsort für die Kriegstoten Kasans eröffnet. 1.418 Bäume wurden gepflanzt, für jeden Tag des Krieges in Russland (1941–45) einer. Anlass ist der Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion auf den Tag genau vor sechsundsiebzig Jahren. Kurz darauf wird nicht weit entfernt in der neuen Kasan-Arena Fußball gespielt.

Von , Kasan
Zeit Online

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