Deutschland ist mein Zuhause
Die Deutsche aus Russland Natalia Minor ist 28 Jahre alt und wohnt in Freiburg, Baden-Württemberg. Ihre Familie kam Mitte der 1990er Jahre nach Deutschland: damals war Natalia acht Jahre alt und musste auch gleich zur Schule. Was hat sie sich in den vergangenen 20 Jahren im Land ihrer fernen Vorfahren aufgebaut? Welchen Schwierigkeiten ist sie auf ihrem Weg begegnet und wie hat sie diese gemeistert? Wer hat ihr dabei geholfen? Diesen und anderen Fragen geht die Autorin Irene Kreker in ihrem Interview nach.
Ich kenne Natalia seit 1996. Sie war bei der Einschulung meines Sohnes auch unter den Erstklässlern mit dabei. Ihre Familie war vor kurzem in die Bundesrepublik eingereist, wir dagegen waren schon drei Jahre in Deutschland.
Ich war immer der Meinung, dass unsere Kinder es mit der Umstellung an das neue Leben viel schwerer hatten. Deshalb habe ich meine Fragen unter diesem Gesichtspunkt aufgestellt, um meine These zu überprüfen: Welchen Schwierigkeiten begegnete sie auf ihrem Weg und wie hat sie diese gemeistert? Was sie sich in den 20 Jahren, seit der Ankunft in Deutschland als 8-jähriges Mädchen, aufgebaut hat?
Unsere Kinder wählten jeder für sich ihren persönlichen Lebensweg in der Wahlheimat der Eltern. Der erste Schultag musste bei jedem im Gedächtnis geblieben sein. Deshalb habe ich das Interview mit folgender Frage eröffnet:
Irene Kreker: Natalia, welche Erinnerungen hast du von den ersten Schultagen in der neuen Heimat?
Natalia Minor: Ich kann mich nicht mehr genau an den ersten Tag erinnern. Ein einschlägiges Ereignis war die erste Unterrichtsstunde. Die Lehrerin hatte nach und nach ein Bild aufgedeckt und man musste erraten, was es für ein Gegenstand ist. Ich hatte mich gemeldet, da ich erkannt hatte, was es war. Doch in dem Moment ist mir erst bewusstgeworden, dass ich das Wort gar nicht auf Deutsch kenne. Seitdem hatte ich mich immer sehr im Hintergrund gehalten, damit mich keiner für meine fehlenden Deutsch Kenntnisse und meinen Akzent auslacht. Die anderen Kinder waren sehr skeptisch mir gegenüber und fanden mich komisch.
Wer oder was hat dir damals geholfen?
Zu Beginn der Schulzeit hatte ich eine sehr engagierte Lehrerin. Sie hat sich sehr dafür eingesetzt, dass ich Kontakt mit den anderen Kindern aufbaue. Ich bin ihr sehr dankbar. Mir hat eigentlich vor allem mein Alter geholfen. Ich war noch 8 Jahre alt. In dem Alter merkt man gar nicht, wie schnell man die Sprache lernt. Ich habe mich nie bewusst hingesetzt und Deutsch gelernt. Ich habe einfach mit den anderen Kindern den normalen Schulstoff durchgenommen und so die Sprache und Grammatik erlernt.
Wer hat dich bei der Berufswahl unterstützt? Was war dabei ausschlaggebend?
Nach dem Realschulabschluss bin ich auf das Wirtschaftsgymnasium in Freiburg gegangen, um mein Abitur zu machen. Ende meiner Realschulzeit und weiter auf dem Wirtschaftsgymnasium wurde mein Interesse für Biologie geweckt. Da ich zudem auch Spaß in Mathematik hatte, beschloss ich ein naturwissenschaftliches Fach zu studieren. Meine Wahl traf daher auf Lebensmittel-wissenschaften und Biotechnologie an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Ich habe 6 Jahre an der Uni Hohenheim studiert – 4 Jahre im Bachelor (mit Praktikum und Auslandsaufenthalt) und 2 Jahre Master. Ich wusste sehr lange nicht, was ich studieren wollte. Sowohl die Sprachen als auch Kunst haben mir immer sehr viel Spaß gemacht. Meine Eltern haben mich aber immer dazu angehalten etwas mit Perspektive zu studieren. Da ich auch in Mathematik nicht schlecht war und immer Biologie sehr faszinierend fand, entschied ich mich in die Naturwissenschaften zu gehen. Meine Entscheidung war daher sehr pragmatisch.
Welchen Rat hast du für angehende Studenten? Wenn du jetzt neu mit dem Studium anfangen würdest, welchen Weg würdest du gehen?
An vielen Universitäten muss man bereits vor Beginn ein Praktikum absolvieren. Ohne jegliche Erfahrung ist das nur möglich, wenn man Beziehungen in die jeweiligen Berufsfelder hat. Das hatte ich nicht. Auf Anfrage für ein Praktikum wurde ich immer abgelehnt. Es gibt auch viele Universitäten, die das nicht voraussetzen. Wichtig ist, dass man sich an vielen unterschiedlichen Universitäten bewirbt.
Im Nachhinein hätte ich auf dem Gymnasium Physik und Chemie gerne nicht abgewählt. Dadurch war es zu Beginn auf der Universität sehr schwer für mich.
Warum hast du dich für das Studium an der Uni in Stuttgart entschieden? Wie sah deine Wohnungssituatiton während des Studiums aus?
Die Universität Hohenheim ist sehr klein und erschien mir durch den Campus-Charakter sehr familiär und übersichtlich. Das hat mir sehr gut gefallen. Die Uni ist zwar nicht sehr bekannt, aber gerade im Bereich der Lebensmitteltechnologie und den Agrarwissenschaften hat sie einen sehr guten Ruf und ist eine der besten Unis für diese Fächer. Stuttgart selbst hat natürlich als Landeshauptstadt sehr viel Hochkultur und Subkultur zu bieten, das fand ich sehr toll an der Stadt.
Zu Beginn habe ich auf dem Campus in Hohenheim, im Wohnheim gewohnt. Hohenheim liegt am Rande von Stuttgart und hat ein eher dörflicher Charakter. Im Master bin ich in die Stadtmitte gezogen. Die Mietsituation in Stuttgart ist sehr angespannt. Ich musste einige Male umziehen, weil viele Wohnungen luxussaniert wurden.
Ich weiß, dass du dir in den Semesterferien etwas dazu verdient hast. Wolltest du deine Eltern damit entlasten? Durch die zusätzliche Belastung hat sich dein Studium verlängert, wie standen deine Eltern dazu?
Meine Eltern haben mir immer sehr viel finanziell geholfen. Da ich sie nicht zu sehr beanspruchen wollte und auch gerne etwas Geld für den Urlaub sparen wollte, habe ich immer etwas dazu verdient. Ich habe nicht nur in den Ferien gearbeitet, sondern auch unter dem Semester als Hilfswissenschaftlerin an der Uni. Dies war sehr hilfreich für mich, da ich dadurch die Uni und Ihre Institutionen kennen gelernt habe und auch die vielen Möglichkeiten, die sich für Studenten ergeben, gekannt habe. Durch meine Arbeit im Auslandsamt habe an vielen zusätzlichen Veranstaltungen mitgemacht, wie Sommerkursen im Ausland und habe ein Erasmusaufenthalt in Polen und ein Praktikum in Kenia absolviert. Zudem war ich in einer studentischen Gruppe tätig, die die Interessen der Studenten im Bereich des Auslandsstudiums vertritt. Dadurch hatte ich die Möglichkeit viele internationale Universitäten zu bereisen und viele Leute kennen zu lernen. Mein Studium hat zwar etwas länger als die Regelstudienzeit gedauert (1 Jahr), aber ich habe viele Erfahrungen gesammelt, die sowohl für mich als Person als auch für meinen beruflichen Weg sehr wichtig waren. Natürlich hatte ich etwas schlechtes Gewissen meinen Eltern gegenüber, aber ich habe versucht sie so wenig wie möglich finanziell zu belasten.
Wenn man die Zeit zurückdrehen könnte, hättest du nach dem Abitur die gleiche Entscheidung getroffen?
Ja, ich denke ich hätte alles genauso gemacht.
Ich weiß, dass du auch Auslandssemester gemacht hast. In welchem Land oder welchen Ländern war das? Rückblickend gesehen, war es für dich die richtige Entscheidung? Welche Erfahrungen hast du aus dieser Zeit im Ausland mitgenommen?
Meine Aufenthalte im Ausland waren mit Abstand die besten Erfahrungen in meiner ganzen universitären Zeit, und, ich denke, ich habe sehr viel daraus gelernt und mitgenommen. Ich habe meine Furcht vor dem Fremden verloren und habe auch keine Angst alleine zu reisen. Ich habe sehr viele interessante Leute aus der ganzen Welt kennen gelernt, mit denen ich immer noch sehr gut befreundet bin. Warschau, Polen war in zweierlei Hinsicht interessant für mich, da ich nicht nur das Land und die Kultur Polens kennen gelernt habe, sondern auch viele weitere Menschen aus ganz Europa. Die Zeit in Polen hat mich viel offener und mutiger gemacht. Auch meine Russischkenntnisse haben sich dort als hilfreich erwiesen. Kenia war eine große Herausforderung für mich. Die kulturellen Unterschiede waren dort sehr groß. Dennoch sind mir alle Menschen sehr positiv begegnet. Es war seltsam, dass man als weiße so eine große Sonderstellung hatte. Damit bin ich nur sehr schwer zurechtgekommen.
Zurzeit ist Mentalität ein großes Thema. Sie beeinflusst die Charaktereigenschaften, die eigenen Taten, das Schicksal. Was meinst du dazu?
Ich denke, der Gedanke der Mentalität sind vor allem Stereotypen, und ich mag das nicht. Ich habe mich in vielen Ländern wohl gefühlt. Natürlich fühlt man sich wohler, wenn man Gemeinsamkeiten erkennt, aber genauso viele Unterschiede gibt es wiederrum. Wichtig für mich sind die Anpassungsgabe und die Akzeptanz der anderen Kultur. Ich habe Menschen aus unterschiedlichen Ländern mit ganz „untypischen Charakterzügen“ für ihr Land, kennen gelernt. Und auch meine Charakterzüge werden immer meinen Nationalitäten zugerechnet. Das nervt und deshalb mag ich das Stereotypen-Denken nicht.
Fühlst du dich zuhause in Deutschland? Welche Sprache sprichst du hauptsächlich? Brauchen wir, Russlanddeutsche, die russische Sprache?
Da ich in Deutschland nun mehr als 2/3 meines Lebens verbracht habe, ist Deutschland für mich mein Zuhause. Deutsch ist die Sprache in der ich mich wohl fühle und in der ich mich am besten ausdrücken kann. Die Russische Herkunft und die Sprache sollten aber auf jeden Fall erhalten bleiben. Für mich war es immer ein großer Vorteil auch eine slawische Sprache zu sprechen, da man damit viele andere slawische Sprachen versteht und viel herleiten kann. Meine Russischkenntnisse sind sehr grundlegend, da ich kaum die Schule in Russland besucht habe, ich möchte diese aber vertiefen und ich möchte, dass meine Kinder mit ihren Großeltern nur Russisch reden.
Natalia, wer hat dich am meisten im persönlichen und beruflichen Wachsen unterstützt und beeinflusst? Wem bist du heute dafür besonders dankbar?
Meine Eltern haben mich natürlich am meisten beeinflusst. Sie haben mir gezeigt, dass man einfach arbeiten muss, um seine Ziele zu erreichen und mir eine eher pragmatische Sichtweise gelehrt. Ich finde meine Eltern sind ein viel besseres Beispiel für Integration als ich. Für mich als Kind war es sehr einfach. Meine Eltern haben ihre Reputation und ihr Leben in Russland aufgegeben, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie haben es geschafft noch im Alter von 40 Jahren sehr gut Deutsch zu lernen und eine sich von einer Putzfrau und einem Paperman zu einer Altenpflegerin und dem Teamleiter der Parkreinigung zu entwickeln. Das ist Integration; und ich bin sehr stolz auf sie.
Ich weiß, dass du auch privat dein Glück gefunden hast. Woher kommt dein Freund? Hast du sein Heimatland kennengelernt? Wie wurdest du von seinen Angehörigen aufgenommen? In welcher Sprache redet ihr miteinander? Kam es wegen sprachlichen Missverständnissen zu Konflikten?
Mein Freund kommt aus Spanien. Wir haben uns zu Beginn auf Englisch unterhalten und reden nun mehr und mehr Deutsch. Missverständnisse gibt es selten, meistens eher auf Deutsch, deshalb reden wir bei wichtigen Themen immer noch Englisch. Spanisch lerne ich natürlich auch, aber es ist noch nicht gut genug. Ich war schon einige Male mit ihm in Spanien. Seine Eltern nehmen mich immer sehr herzlich auf. Ich fühle mich dort immer sehr wohl und willkommen, obwohl ich die Sprache noch nicht so gut beherrsche. Mentalitätsunterschiede merke ich kaum. Ich glaube das liegt vor allem daran, dass sowohl mein Freund als auch ich uns gut anpassen und auf einander einstellen können.
Natalia, wo arbeitest du heute? Welchen Beruf übst du aus? Gefällt dir deine Arbeit? Was sind deine Aufgaben und welche Verantwortung musst du dabei übernehmen?
Ich arbeite als Lebensmitteltechnologin in einem Lebensmittelunternehmen in Freiburg. Zu meinen Aufgaben zählt es neue Produkte zu entwickeln und sicher zu stellen, dass sie produzierbar sind und natürlich gut schmecken. Ich bin zudem dafür verantwortlich, die bestehenden Produkte sowohl in ihrem Herstellungsprozess als auch in ihren Eigenschaften zu optimieren.
Was ist dein größter Traum?
Momentan hoffe ich eigentlich nur, dass wir eine bezahlbare Wohnung in Freiburg bekommen, in der wir lange bleiben können, da der Wohnungsmarkt momentan extrem angespannt ist.
Irene Kreker