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Die Menschen müssen sich ändern

Die Menschen müssen sich ändern

Wie eine Kasanerin für mehr grünes Bewusstsein kämpft – und bei sich anfängt

In einem Vorort von Russlands fünftgrößter Stadt Kasan hat Anfang Juni der Bau einer Müllverbrennungsanlage begonnen. Das Projekt gehört zu den ersten seiner Art im Lande und soll eine neue Ära bei der Müllentsorgung einleiten, die bisher hauptsächlich auf riesigen Deponien erfolgte. Doch Anwohner befürchten, dass das Werk der Umwelt und ihrer Gesundheit schaden wird. Zu den Wortführerinnen der Projektgegner gehört die Webdesignerin Vera Kerpel.

„Hilfe! Sie wollen uns vergiften“, steht auf einem hellgelben Plakat. Osinowo dürfe nicht „Dioxinowo“ werden. Etwa 20 Menschen halten es mit ernstem Blick in die Kamera. Das Foto entstand bei einer der vielen Protestaktionen von Anwohnern gegen eine Müllverbrennungsanlage in Osinowo bei Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan. Sie organisierten sich in einer Bewegung unter dem Titel „Gegen die Müllverbrennungsanlage in Kasan. Für Mülltrennung und Wiederaufbereitung“. Immer mittendrin: Vera Kerpel. Die 35-Jährige hat vor drei Jahren einen wichtigen Entschluss gefasst.

Früher beschränkte sich Kerpels Interesse, Missstände zu bekämpfen, auf Online-Petitionen. Aber als im Jahre 2017 Pläne bekannt wurden, bei Kasan eine Müllverbrennungsanlage zu errichten, entschied die gebürtige Kasanerin: Das geht so nicht! Zu diesem Zeitpunkt fing sie auch an, ihren Müll zu trennen, und sagt heute: „In Russland muss sich alles ändern. Vor allem müssen sich die Menschen ändern. Ich möchte, dass jeder seine eigene Verantwortung dafür, was im Land passiert, erkennt und übernimmt.“ Ihre Heimat verlassen möchte sie nicht und setzt sich umso unermüdlicher gegen die Baumaßnahmen in Osinowo ein.

Vera Kerpel hat in Moskau studiert und danach dort auch als Direktionsassistentin gearbeitet. Nach zwei Jahren führte ihr Weg jedoch nach Kasan zurück, wo sie eine Stelle im Kundendienst der Raiffeisenbank annahm. Ein Jahr später wechselte sie in das Büro des russischen Online-Riesen Yandex und wurde dort zur stellvertretenden Leiterin ernannt. Heute ist sie freiberuflich als Webdesignerin tätig, um mehr Zeit mit ihrer kleinen Tochter verbringen zu können.

Als Umweltfanatikerin sieht sie sich ebenso wenig wie als Ideal. „Ich bin ein gewöhnlicher Mensch, der erkannt hat, dass es Zeit war, alte Gewohnheiten zu ändern.“ Plötzlich achtete sie auf ihren Wasserverbrauch, nahm zum Einkauf nur noch einen Stoffbeutel mit. Dinge, die sie nicht mehr brauchte, wurden verschenkt statt weggeworfen. Mittlerweile hält Kerpel Vorträge und demonstriert in Handwerkskursen, was man Schönes aus Müll herstellen kann. Sie erklärt Kindern die Natur, organisiert Umweltspiele für Groß und Klein und hilft anderen, ihren Müll zu trennen.

Als im November 2019 eine Zufahrtsstraße für die geplante Müllverbrennungsanlage in Osinowo entstehen sollte, blockierten sie und andere Aktivisten die Auffahrt mit einer Menschenkette. Später wurde vor Ort sogar ein Zeltlager eingerichtet. Einen ganzen Monat harrten die Protestler bei teils eisigen Temperaturen aus, ehe die Polizeisondereinheit OMON das Camp auflöste.

Über 2000 Briefe haben die Aktivisten schon an Präsident und Regierung geschickt. „Wir bekommen pro Brief bis zu sechs Antwortschreiben aus verschiedenen Abteilungen“, so Kerpel. Allerdings sei der Effekt gleich null. „Die Meinung der Bürger interessiert dort nicht.“

Im Mai hielt Alexander Schadrikow, der Umweltminister Tatarstans, eine Online-Pressekonferenz ab. Dabei ging es um ausländische Gutachten, die sein Ministerium zu der Müllverbrennungsanlage in Auftrag gegeben hatte und die positiv ausgefallen seien. So kommt das renommierte deutsche Ingenieurbüro Müller-BBM aus Planegg bei München zu dem Schluss, es gebe keine Anzeichen dafür, dass beim Betrieb der Anlage russische Umweltstandards verletzt würden, negative Auswirkungen auf Natur oder Bevölkerung seien nicht zu erwarten. Auch die Stellungnahme eines technischen Sachverständigen der LGA Immissions- und Arbeitsschutz GmbH aus Nürnberg fällt wohlwollend aus.

Vera Kerpel kann darüber nur mit dem Kopf schütteln. Es handele sich nicht um Öko-Gutachten, sondern vorläufige Daten zu Dispersionsberechnungen und zur Bewertung der Gerätetechnik. Welche Schadstoffe in welchen Mengen bei der Verbrennung eigentlich entstehen und freigesetzt würden, sei nicht untersucht worden. Sie ist überzeugt, dass Müllverbrennung „ökologischer Wahnsinn“ ist.

Inzwischen haben die Behörden in Tatarstan nach zahlreichen öffentlichen Kontroversen grünes Licht für das Vorhaben gegeben. Bereits diesen Monat sollen die Bagger anrollen. Die Inbetriebnahme der Anlage ist für Herbst 2022 vorgesehen.

Von Tanja Götz
Moskauer Deutsche Zeitung, №13 (524) Juli 2020